Rainer Schell, der Architekt mit vielen Begabungen
Beim Betreten der Stadthalle Dillenburg fallen sie sofort ins Auge: die großen Wandteppiche. Die in kräftigen Farben mit geometrischen Mustern gestalteten Schmuckstücke sind einzigartige Unikate. Sie wurden vom Architekten Rainer Schell für die Stadthalle Dillenburg entworfen und mit hochwertiger, lichtbeständiger Schurwolle gewebt. Hersteller war die Firma Vorwerk, Künstleredition „arterior textile“. Alle Teppiche bestehen aus quadratischen Einzelstücken, die zu größeren Rechtecken zusammengefasst wurden – passend für die Betonwände, an denen sie aufgehängt wurden.
Rainer Schell hat der Stadt Dillenburg die Entwürfe für alle Wandteppiche zum Geschenk gemacht, die Herstellung selbst war dann ein Geschenk der mit dem Rohbau des Stadthallen-Projekts betrauten heimischen Baufirma. Einerseits waren die ungewöhnlich gestalteten Webarbeiten richtige „Eyecatcher“, andererseits dienten sie aber auch dazu, den Nachhall der Betonwände zusätzlich zu den Holz-Akustikdecken zu dämpfen.
Stadthalle ans Herz gewachsen
„Im übrigen ist die Grenze zwischen Baukunst und bildender Kunst fließend und abhängig vom jeweiligen Baukünstler und Objekt.“
Rainer Schell
Der gebürtige Bautzener schreibt dazu später in seinen Erinnerungen. „Ich hatte mir bei meinen Bauten, die mir besonders am Herzen liegen und etwas unter dem Mangel an Mitteln leiden, hin und wieder die Freiheit genommen, solche künstlerischen Entwürfe zu schenken. Das trifft hier auch für Dillenburg zu. Im übrigen ist die Grenze zwischen Baukunst und bildender Kunst fließend und abhängig vom jeweiligen Baukünstler und Objekt.“
Gebäude, Teppiche, Möbel, Stoffe, Malerei – Rainer Schell war nicht nur ein bekannter Architekt, sondern auch ein anerkannter Möbeldesigner und vielseitiger Künstler. Eine international bekannte Möbelkollektion stammt aus seiner „Feder“. Ein Auszug aus seinem gesamten künstlerischen Werk war in der Ausstellung „Rainer Schell – Aquarelle, Teppiche, Möbel, Gefäße, Architektur“ mit 175 Exponaten im September 1982 im Mittelrheinischen Landesmuseum Mainz zu sehen.
Den Spuren Rainer Schells folgend, stößt man in der Region auf ein weiteres Projekt von ihm: Das neue Gemeindezentrum mit Kirche im Wetzlarer Stadtteil Dalheim ging aus einem Wettbewerb hervor (1970). Es umfasst mehrere Gebäude, darunter Kirchengebäude, Gemeindezentrum, Verwaltung, Wohnungen.
Der Architekt hat das Kirchengebäude in der für ihn typischen Art gestaltet. Der Kirchenraum ist ein ganz einfacher rechteckiger Baukörper. Jedoch mit sehr guten Proportionen, Höhen, Belichtung und Sichtachsen. Für ihn war es wichtig, dass moderne Kirchen nicht mehr den barocken Protz zur Schau stellten, sondern eine möglichst einfache und dadurch langlebige Architektur haben sollten. Eine Besonderheit ist der Glockenturm. Dieser ist in Dalheim nicht freistehend, sondern direkt an den Kirchenbau angefügt. Auch hatte sich der Wiesbadener Architekt am Wettbewerb für den Bau eines neuen Rathauses in Haiger beteiligt – hier ist er allerdings nicht zum Zuge gekommen.
Ingeborg Flagge, ehemals Professorin für Baugeschichte und Direktorin des Deutschen Architekturmuseums Frankfurt, hat im Jahre 2014 in einer Rede zur 50-Jahr-Feier der Thomaskirche in Wiesbaden (Architekt Rainer Schell), auf die hohe Qualität seiner Arbeiten hingewiesen. Sie betont in dieser Rede, dass Schell in den 50ziger und 60ziger Jahren einer der „bundesweit bekanntesten und geschätztesten Architekten“ war. Sie bescheinigte ihm, ein nüchterner und vernunftbetonter Mann gewesen zu sein. Wie viele Architekten seiner Generation – und seine Bauten waren oder sind funktional, streng und karg. Einige Werke des im Frühjahr 2000 in Oberbayern verstorbenen Architekten wurden bereits unter Denkmalschutz gestellt.
Tätigkeit als Professor abgelehnt
Schell hatte von der Uni Karlsruhe zweimal die Aufforderung erhalten, für den Lehrstuhl „Baukonstruktion und Entwerfen“ als Professor tätig zu sein. Die Fakultät Architektur in der badischen Stadt galt damals und auch heute noch zu den bedeutendsten Architektur-Studiengängen in Deutschland. Schell hat das Angebot mit Bedauern abgelehnt, weil er sich nicht in der Lage sah, neben der Bürotätigkeit noch an der Universität zu lehren. Mit dem selben Argument lehnte er auch die Berufung an die Hochschule in Aachen ab.
Nachlass im Stadtmuseum Wiesbaden
Der Nachlass, das Archiv von Rainer Schell wurde nach der Büroauflösung in der hessischen Landeshauptstadt dem Stadtmuseum Wiesbaden übergeben, wo es sich bis heute befindet. Auf Nachfrage des Vereins „Pro Stadthalle Dillenburg“ gab es die Auskunft, dass eine Digitalisierung der Unterlagen geplant sei, aber wegen des großen Umfangs noch einige Zeit in Anspruch nehme. Es seien 2298 Unterlagen zu 88 Projekten vorhanden. Darunter auch einige Unterlagen der Stadthalle Dillenburg, unter anderem Fotos von einem Modell der „Gudd Stubb“. Im Bestandsverzeichnis des Museums sind die Unterlagen noch aufgelistet, da sie noch nicht digitalisiert wurden.
Quellen: Stiftung Stadtmuseum Wiesbaden, Sammlungsmanagement; Architekt Rainer Schell: „30 Jahre Architekt in Wiesbaden“ (Selbstverlag, 1980); Ausstellung „Rainer Schell – Aquarelle, Teppiche, Möbel, Gefäße, Architektur“ September 1982, Mittelrheinisches Landesmuseum Mainz, ein umfassendes Buch zur Sammlung ist im Werkstattbuch-Verlag, Murnau, 1982, erschienen.